Fließend Wasser

“Hier stand einst das All English Eleven Hotel. Im Jahre 1897 war es das erste Gebäude in dieser Gegend, welches an das öffentliche Abwassersystem angeschlossen wurde.”

Diese Plakette fanden wir gestern auf einem Spaziergang.

Selbst in meiner Kindheit in China auf dem Lande gab es für uns kein fließend Wasser im Haus, erinnert sich meine Frau. Ihre Eltern waren Lehrer in der südlichen Provinz Guangxi, in einer Kleinstadt namens Zhaoping. Sie hatten sich beim Studium in einer größeren Stadt, in Guilin, kennengelernt. 1963 war ihr Studium zu Ende und die Behörden schickten sie in eine Schule irgendwohin, je nach Bedarf. Die familiäre Herkunft spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Meine Schwiegereltern hatten eine damals unvorteilhafte Herkunft, beide ihrer Elternhäuser waren vor der Machtübernahme durch die Kommunisten wohlhabend gewesen. Angelegenheiten des Herzens waren ohnehin von untergeordneter Natur, und so war ihr Arbeitsplatz in verschiedenen Städten, hunderte Meilen voneinander entfernt. Er kam nach Nanning, die Hauptstadt von Guangxi, während sie ihre Arbeit an einer Mittelschule in Zhaoping aufnehmen mußte.

Für vier Jahre versuchte er, sie und seine Familie in die Großstadt zu bringen, in der das Leben in vierlei Hinsicht besser war. Es ergab sich aber nicht. Schließlich gab er auf und zog zu ihr aufs Land.

Die Lehrer der Mittelschule waren in einem Wohnkomplex untergebracht, in dessen Mitte sich die Wasch- und Kochmöglichkeiten befanden. Dort gab es fließend Wasser, kalt und warm. Man wusch sich dort und ging auch nahebei in eine örtliche Toilette, ein Loch im Boden, über das man sich hockte. Für Bedürfnisse im Dunkeln stand ein Nachtpot an der Tür, der morgens dann gesäubert wurde. Oft war dieser Nachtpot ein Teil der Aussteuer, die einer Frau bei ihrer Heirat auf den Weg gegeben wurde. Fürs Händewaschen gab es einen Wassereimer, der hinter dem Haus in einen Kanal geleert wurde.

In den Sechzigern war die Kulturrevolution in vollem Gange. Die Lehrer gingen mit ihren Schülern regelmäßig in die Reisfelder, um bei der Aussaat zu helfen. Auch wenn Intellektuelle verschrieen waren, waren sie denn doch manchmal nützlich. Meine Schwiegermutter fiel durch ihre gute Handschrift auf und wurde für “freiwillige” Arbeit in einer Propagandaeinheit eingestellt. Unsinn auf Plakate zu malen war besser als im Wasser zu stehen, während sich die Polypen an den Beinen festsaugen, befand sie.

Auch ihr Mann versuchte, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen. Er ernannte sich selbst zum Federballtrainer und übernahm die Musikanlage der Schule. Es war ihm überlassen, Platten zu kaufen. Er genoß die Freiheit. Während klassische chinesische Musik verboten war, es gab nur eine Handvoll revolutionärer Opern, die unter Mao aufgeführt werden durften, wurden klassische Orchesterwerke aus dem Westen toleriert. Meine Frau wuchs daher mit dieser Musik auf. Ihr Vater organisierte Konzertabende in der Schule, Vorführungen verschiedenster Art und hatte letztendlich eine Menge Spaß dabei, wie meine Frau meint. Sie erinnert sich, dass er einmal ein Flugzeugmodell bastelte und durch den Raum fliegen ließ.

Als Angestellte in der Stadt bekamen ihre Eltern regelmäßig eine Portion Reis, die mit Bauern aus der Umgegung getauscht wurde. Ihre Familie hatte “Geschäftsbeziehungen” mit einem Bauern, der mit frischen Reis zu ihnen kam und ihn gegen den alten aus der Familienration eintauschte, im Verhaltnis 1:2. Er trug den Reis und anderes ausbalanziert an den Enden eines dicken Bambusstockes, den er sich über die Schultern legte. Ein lokaler Bauernmarkt im Ort trug ebenfalls dazu bei, daß sie für ihre Umstände recht gutes
Essen auf dem Tisch hatten.

Währenddessen wurden ihre Eltern, die Großeltern meiner Frau, nicht jünger. Sie lebten in Wuzhou, einer etwas größeren Stadt einige Stunden flußabwärts am Gui, der sich in Wuzhou mit dem Xun verbindet. Meine Frau besuchte oft ihre Großeltern in den Ferien. Auf dem Fluß ging sie auf die Reise. Ein Schiff, mit Früchten und Gemüse beladen, brachte sie in die Großstadt und zurück. Sie genoß es, einige Stunden auf geladenen Kohlköpfen zu sitzen und sich die Natur anzuschauen.

Der Großvater war vor der Revolution Hotelbesitzer gewesen. Wohl hatte er sein Heim und seinen Reichtum verloren, sich dann aber doch mit den Kommunisten arrangiert, die seine geschäftlichen Faehigkeiten zu schätzen wußten. Er wurde Leiter einer lokalen Handelskammer.

Er hoffte, daß er seine Beziehungen nutzen konnte, um seine Tochter und deren Familie nach Wuzhou zu holen. So schrieb er einen Bittbrief an lokale Behörden. Seine Tochter hatte in der Propagandaeinheit, in der sie arbeiten mußte, einen hohen Offizier kennengelernt, der ebenfalls eine Kopie des Bittbriefes bekam. Als er nächstes Mal nach Wuzhou fuhr, nahm er meine Schwiegermutter mit. In Wuzhou gab es einen größeren Militärkomplex mit einer eigenen Schule.

Der Offzier fuhr mit dem Jeep vor und beauftragte einen seiner Untergebenen damit, für die mitfahrende Frau zu sorgen. Beeindruckt von der Vorstellung, sie mußte schon was besonderes sein, wenn der Offizier sich darum bemühte, nahm sich der Beauftragte dieser Angelegenheit an. Bald schon bekam sie eine Anstellung in der Schule. Sie konnte zunächst nur ihre Tochter mitbringen, Mann und Sohn blieben ein weiteres Jahr in der Kleinstadt, da sie dort in der Schule nicht zwei Lehrer gleichzeitig abgeben wollten.

Schließlich, im Jahre 1980, war die Familie wieder vereint. Mein Schwiegervater war sehr froh, in einer Wohnung zu wohnen, in der fließend Wasser, Toilette und Küche zu finden waren. Mehr brauche er nicht zum Leben, sagte er angesichts des Wohlstandes. So erinnert sich meine Frau.

Die Arctic Monkeys kommen!

Blauer Himmel Sonnenschein
Und ich steh hier am Strand allein
Einfach zu verstehn
Der Grade sind es zehn
Die meisten wolln im Warmen sein.

Ja, ich habe soeben auf einem Plakat gelesen, daß die Arctic Monkeys im Januar hier spielen. Dann ist es Sommer. Im letzten Sommer habe ich mich kurz entschlossen, eine Eintrittskarte für eine US-Amerikanerin zu kaufen, die nun im Winter hier ein-, an- und auftritt. Das ist nun nächsten Sonntag, falls sie nicht inzwischen abgesagt hat.  Nochmal nachgucken: Ja, es sieht so aus, als wenn Chelsea Wolfe hier spielen wird.. Es ist für mich noch immer ungewöhnlich, ein halbes Jahr voraus zu planen.

Im Moment sind hier eher antarktische Winde zuhause. Ich sitze vor dem Gasheizer, zwichen mir und der Heizung hat sich A Bai, unsere Katze gedrängelt.

Musikalisch habe ich die letzte Stunde mit einer neuen Platte aus Melbourne verbracht, die mich oft Jahrzehnte in die Vergangenheit reisen ließ. “Rotsler’s Rules” von Black Cab klingen nach Tangerine Dream, Kraftwerk, New Order, Giorgio Moroder und Jan Hammers Musik für Miami Vice.  Genug, um für 36 Minuten unterhaltsam zu sein. Ein Stück heißt KarlMarx Stadt, was mich verwundert hat. Ich habe bei DuckDuckGo nachgeguckt und unter dem Namen ein Bauteil für elektronische Musik gefunden, welches vor ein paar Jahren in Polen hergestellt wurde. Ich vermute, das Stück wurde eher danach benannt als nach der Stadt, die seit dem Ende der DDR nun wieder Chemnitz heißt. Ich habe einen Mitstudenten, der in Karl-Marx-Stadt in der DDR geboren wurde. Der Arme hat heute weder Herkunftsort noch Herkunftsland, zumindest dem Namen nach.

Auf der Südhalbkugel bin ich zwar jahreszeitenmäßig immer im Gegensatz zum Norden, was Jahrzehnte angeht, sieht es hier doch oft ähnlich aus wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern. So bin ich erst über Straßen geradelt, die aus Betonplatten bestehen, ähnlich den Autobahnen, die man im Osten Deutschlands, in der DDR, befuhr, Stoß für Stoß hörend, wie auf alten Eisenbahnschienen. Kein Wunder, Garden City wurde seit den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts bebaut, und die Platten mögen auch seit damals hier liegen.

 

Sometimes you think of Bowness – Manchmal denkst du an Bowness

Bevor ich zum ersten Mal nach Melbourne kam, wurde mir die Stadt als “die britischste” der australischen Großstädte beschrieben. Als ich in das Zimmer kam, in dem ich gerade schreibe, an einem wintrigen, regnerischen Abend, schaute mich die Katze kurz an und ging hinaus. “Wenn Deine Seele eine Katze ist, dann such dir jemand den du ignorieren kannst.” So oder ähnlich habe ich ein paar Zeilen im Kopf, die von einem der Gedichte kommt, die ich gerade gehört habe.

We Come From The Sun, Wir kommen von der Sonne, heißt eine gut halbstündige Platte, die ich heute abend gefunden habe. Cerys Matthews hat sie mit Hidden Orchestra komponiert. Diese atmosphärischen Klänge, die Gedichte von 10 Dichtern aus  dem Vereinigten Königreich untermalen, sind ordentlich ein paar Meilen von der Cerys Matthews entfernt, die in den 90ern am Mikro der Rockband Catatonia “Storm The Palace”, Stürmt den Palast, sang, ein Lied, in dem sie dazu aufrief, die königliche Familie zum Arbeiten in den Supermarkt zu schicken.

Die Platte und die Gedichte klingen nach Regen und Wetter und Fußball, nach britischen Inseln, und ein Hauch davon weht derzeit auch in eisigen Regenschauern durch Melbourne. Heute hat das Thermometer gerade mal die 10 Grad überschritten, und unweit der Stadt, so hört man, hat es geschneit. Es ist der erste Tag des Monats Juni, dieser Temperatursturz kommt doch recht früh. Es ist die Zeit, in der man sich hier den Schal um den Hals legt und den Schutz von Vordächern und Häusern, sein Zuhause, die Kneipe oder den Konzertsaal aufsucht.

Einen sehr kleinen Konzertsaal, den band room eines Hotels, einer Kneipe in Northcote, habe ich vor kurzem besucht. Das Wetter war so-so, draußen stand “Booze”, Fusel, dran, die Kneipe war etwas mehr als wohnzimmergroß, der band room dahinter ebenfalls. Den Schlaks neben dem Eingang erkannte ich wieder, Andy White, ein irischer Folksänger, der hier sein Zuhause gefunden hat. Vor mir saß auf dem Boden ein junger Mann mit dunkelbemalten Fingernägeln, der später Andy am Schlagzeug begleiten sollte: sein Sohn.

Doch zunächst betrat Kavisha Paola Mazella mit ihrer Gitarre die Bühne. Walk with me through the pouring rain, geh mit mir durch den Regen, der auf uns niedergießt, sangen, brummten und summten ein paar Minuten später die vielleicht dreißig Gäste, als sie ihr Lied über St.Kilda sang. St.Kilda ist bei mir um die Ecke, am Wasser, ein Badeort, der ein wenig was vom Prenzlauer Berg an sich hat, aufgehübscht und dazwischen die, die nicht so recht reinpassen, auf der Straße zuhause sind und sich bei Brot und Suppe in der Sacred Heart Mission aufwärmen.

Ein anderes Lied, welches mir im Gedächtnis geblieben ist, heißt Viva Sara. Vor eingen Jahren war sie im Süden Frankreichs, am Strand von Saintes-Maries-de-la-Mer. Am 24.Mai jeden Jahres ehren die Romani ihre Heilige mit einem Fest, an dem gesungen, getanzt und gefeiert wird. Die Romani kommen von überall her, von allen Ecken Europas. Die Mütter und ihre Kinder sitzen dabei auf den Dächern, erzählte die Sängerin von ihren Erinnerungen an das Fest am sonnigen Mittelmeer, bevor sie ihr Lied anstimmte.

Sie ist in Perth aufgewachsen, wo auch ein Bogenschütze herkommt, neben dem ich an Sonntagen öfter mal an der Linie stehe, wenn ihn nicht der Beruf woandershin verschlägt. Aaron Wyatt spielt Geige und dirigiert. Das tat er auch bei einen der freien Konzerte, die das Melbourne Symphony Orchestra jedes Jahr im Sommer in der Domain veranstaltet. Er dirigierte das Welcome to the Country, ein Willkommen der Aboriginals. Es sang die Aboriginal Sopranistin Deborah Cheetham, die es auch komponiert hatte.

Ich meinte, ihre voluminöse Stimme schon einmal gehört zu haben, in der Nationalgalerie hier in Melbourne. Damit lag ich richtig, ihre Stimme und ihre Eigenkomposition begleitet eine Videoinstallation, die mich fasziniert hat.

Man betritt einen in Dunkel gehüllten Raum, kann sich in einen der Bettsäcke versinken lassen und hört Deborah Cheethams Stimme, eine Komposition, die etwas von Wagner hat. (Das darf gern von Experten bezweifelt werden, es ist mein Eindruck.) Reko Rennie hat die Installation geschaffen. Ein dreigeteilter Schirm, links und rechts gespiegelte Nahaufnahmen, in der Mitte die Stadt. zeigt ihn in einem Holden Monaro von 1973. Er fährt in die Dämmerung, die Nacht durch den inneren Westen der Stadt, der durch den Hafen und Industrie gezeichnet ist und Blicke auf die beleuchteten Türme der Innenstadt freigibt.

Es sind mir vertraute Anblicke. Ich komme aus einer Hafenstadt, mein Vater hat im Hafen gearbeitet. Heute lebe ich nahe von Hafenanlagen, wenn ich abends von zuhause an die Bucht gehe, sehe ich Krane, Pier und Schiffe.

Apropos Zuhause und Industrie: Nahebei ist eine Fabrik, die Vegemite herstellt. Vegemite ist ein salziger hefiger Brotaufstrich, den zu mögen es durchaus Gewöhnung und australischer Kindheit bedarf (also kurz: nichts für mich).

Die lokale Verwaltung hat den Geruch dieser Fabrik als kulturell relevant eingestuft. Fishermans Bend, wie die Gegend heißt, wird über die nächsten Jahre von einer Gegend mit Lagerhallen zu einer mit Wohnhäusern werden. Dabei soll dieser Geruch in irgendeiner Form bewahrt werden. Ich weiß nicht so recht, was das heißen soll.

Einen ähnlichen Geruch kenne ich aus meiner Heimat in Rostock, als ich nahe einer Brauerei wohnte. Es roch nach Bier und Hefe. ich hatte mich dran gewöhnt und mochte den Geruch.

Die Brauerei zeigte zu meiner Seite eine hohe fensterlose Wand. Unten war eine kleine Tür, über der “Haustrankabgabe” stand. Hier bekamen die Arbeiter regelmäßig einen Kasten Bier als Teil der Entlohnung.

Neben der Tür standen die Öffnungszeuiten und der Hinweis: “Im Notfall bitte Telefonnr. …. anrufen.” Wie wohl so ein Notfall aussah?

 

In der Innenstadt

Nach dem Gärtnern heute bin ich in die Innenstadt geradelt, mich an eine Geschenkkarte in meinem Portemonnaie erinnernd. Ich nahm an, daß es sich um ein Geburtstagsgeschenk handelte, bei genauerem Hingucken stellte sich heraus, daß ich sie schon seit Weihnachten habe.

Normalerweise dauert es nicht so lange, bis ich so eine  Karte in Bücher umwandele. Im Moment bin ich immer noch ein wenig unter Pandemieschock, nehme ich an. Alles ist ein wenig weniger geworden, was ich sonst so gesellschaftlich und andererseits betrieben habe. Eine Art Winterpause hat mein Leben befallen, und danach dauert es ein bißchen, bis die Pflänzchen wieder sprießen.

Das Gleiche erhoffe ich mir von der politischen Landschaft. Die letztwöchige Abwahl der Regierung hatte schon etwas von Zeitenwende in sich. Es war ein lautes “Genug” gegen Inkompetenz und Gemeinheit. Wie weit das Ansinnen der Neuankömmlinge im Parlament, die sich Aktion gegen Klimawandel  auf die Fahnen geschrieben haben, in Taten umgesetzt wird, werden wir sehen. Australien hat nicht nur in dieser Hinsicht zwanzig Jahre vergeudet.

Ich muß mich auch davon erstmal erholen. Australien hat eine beklemmende Rechtsdrehung genommen, Angst und Schrecken vor allem und jeden war das Rezept, mit dem hier ein Vierteljahrhundert fast ununterbrochen regiert wurde. Stop the unions! Stop the boats! Axe the tax!…

Zunächst setzte ich mich in eine Kneipe, um die Zeitung zu lesen. Am Samstag finde ich dort ein paar Seiten Buchbesprechungen, die mir vielleicht Anregungen geben könnten. Ich hatte vorher nur ein paar vage Ideen. Auch gehört das samstagliche Zeitungeslesen zu meiner Tradition, um ein wenig abzuschalten.

Auf der ersten Seite begann ein Artikel über Einwandererkinder aus dem Sudan, die inzwischen als junge Footyspieler in den unteren Ligen an die Türen der großen Klubs klopfen. Einige von ihnen haben es schon geschafft und spielen dort.

Es war nicht gerade überraschend, an diesem wintrigen Tag im Fernseher ein Footyspiel zu sehen, und am Nachbartisch zwei Demonfans mit Schals über das Spiel ihrer Mannschaft gegen meines zu reden, als auch einen bekannten ehemaligen Footyspieler von Geelong im Raum zu sehen. Die Fans tranken recht schnell recht viel, bevor sie mit der Straßenbahn zum Stadion fuhren. Ich glaube, es waren Vater und Sohn. Zum Abschied hieß es “Go Saints!” – “Go Demons!”

(Das war das Spiel der Saints gegen Melbourne Demons vor kurzem  im MCG, dem Melbourne Cricket Ground, ein Stadion, in das 100 000 Leute passen. Die Saints verloren gegen den Meister des letzten Jahres, der auch dieses Jahr Favorit und Tabellenführer ist.)

Die Mitre Tavern ist das älteste erhaltene Gebäude der Stadt. Erbaut in den frühen Vierzigern des 19.Jahrhunderts, ist es ein Haus, wie es auch in England stehen könnte. Das Dach ist schräg und steil, auch wenn es hier keinen Schnee gibt, der an den Schrägen herabgleiten müßte, und Fenster gibt es wenige.

In England liegt das unter anderem an der Window Tax, der Fenstersteuer, die unter William III. im Jahre 1696 eingeführt wurde. Eigentlich wollte er eine Einkommenssteuer. Es galt aber als schwerer Eingriff in die Privatsphäre, seine Einkünfte vor dem Staat offenzulegen zu müssen. So behalf sich der König damit, die Anzahl der Fenster der Häuser zählen zu lassen, da man daraus in etwa das Vermögen der Besitzer abschätzen könnte. Natürlich gab es auch damals Möglichkeiten, die Steuer zu umgehen und minimieren: das Zumauern von Fenstern und das Errichten von neuen Häusern mit so wenigen Fenstern wie möglich. Eine Einkommenssteuer gibt es in England erst seit 1842.

In der Mitre Tavern saßen unter anderem auch die Gründer einer Baumarktkette. Ursprünglich wollten sie sich die Mitre 2 nennen, aber Mitre 10 klang besser. Unter diesem Namen ist die Kette bis heute bekannt. “Mighty helpful – Mitre 10” hat jeder Australier mindestens tausend Mal im Fernsehen und im Radio gehört.

Auf dem Weg zum Buchladen kam ich an einer anderen Namensverrenkung vorbei. Als ich in Melbourne ankam, stand in der Innenstadt ein recht schönes Jugendstil imitierendes Einkaufsgebäude, Australia on Collins. Im Erdgeschoß des Hauses war ein Brunnen, an dem meine Tochter als Kleinkind öfter spielte, wenn wir dort essen gingen. Das Wasser im Brunnen fiel leider den Einschränkungen der Millenium Drought, der “Jahrtausend-Dürre”. die von 1997-2009 dauerte, zum Opfer, das Gebäude selbst einer Kaputtrenovierung vor ein paar Jahren.

https://www.adonline.id.au/buildings/australia-on-collins/ zeigt Fotos von vor, https://en.wikipedia.org/wiki/St._Collins_Lane nach der Renovierung.

Jetzt heißt es St.Collins Lane,”Sankt(?)-Collins-Gasse”. David Collins, ein Offizier, der mit der First Fleet, den ersten Gefangenenschiffen, nach Australien kam und später die zweite Strafkolonie von Van Diemens Land, heute Tasmanien, gründete, war ganz sicher kein Heiliger…

Zwischenmeldung aus Melbourne: Wahlen vorbei, wir gehen jetzt Sträucher pflanzen

Es ist noch nicht einmal eine Woche her, das in Australien das Bundesparlament gewählt wurde. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an.

Die letzte “Amtshandlung” des ausgehenden Prime Ministers, Scott Morrison, war, den Versuch eines Flüchtlingsbootes, nach Australien zu kommen vermelden lassen. Das stand ganz  im Gegensatz zu den Gepflogenheiten, die er selbst als Minister für Einwandererung eingeführt hatte. Seit damals wird über “Seeoperationen” nicht berichtet. Seitdem wissen wir praktisch nicht mehr, was unsere Grenztruppen so tun oder nicht tun. Im Angesichte eines Wahlverlustes war es Zeit, uns an die Boote zu erinnern und am Wahltag noch schnell Millionen SMS an Wähler zu schicken.

Geholfen hat’s denn doch nicht mehr. Sehr sehr viele eher konservative Wähler haben unabhängige Kandidaten gewählt, da sie von Prime Minister und liberaler Partei genug haben. Die Grünen, seit bald zwei Jahrzehnten drittgrößte politische Kraft im Lande, hat ebenfalls Gewinne zu verzeichnen.

Nun haben wir Anthony Albanese von der Labor Party als Prime Minister. Er ist mit der zukünftigen Außenministerin Penny Wong nach Tokio geflogen, hat die Führer der USA, Japans und Indiens getroffen, Penny Wong besucht Nachbarn in den pazifischen Inselstaaten, die Erde hat Australien weder verschlungen noch hatten wir einen Religions- oder Kulturkrieger vom Amt aus Canberra gehört.

Eine Woche Zivilisation, um es kurz zu beschreiben.

Meine Frau und ich gehen morgen mit der  ACF, der Australian Conservation Foundation, Sträucher pflanzen.

Ceremony – Moderne Kunst von Australiens Ureinwohnern in Canberra

Einen erinnerungswürdigen Nachmittag verbrachte ich in Canberra damit, durch die immer wieder gern besuchte Nationalgalerie Australiens, die NGA, zu schlendern.

Dieses Mal fand ich ein Triennale zeitgenössischer Kunst, geschaffen von Australiens Ureinwohnern, den Aborigines. Mit modernen Mitteln führen diese ihre zehntausende alte Kultur weiter, benutzen heutige Methoden, Farben und Stoffe, verbinden sie mit überlieferten und geben ihren Erzählungen einen neuen, oft frischen Eindruck. Die Ausstellung ist noch bis Ende Juli zu besichtigen.

Im See, im Lake Burley Griffin, schwamm ein  von Robert Fielding besprühtes Autowrack.

Wenn man etwas mehr als halbe Strecke auf dem Weg von Coober Pedy, der zumeist unterirdischen Stadt der Opalsucher, die ich mit meinem Sohn vor drei Jahren besuchte (https://www.petros.id.au/?p=198), nach Alice Springs, nach vielleicht vier Stunden bei Indulkana nach links abbiegt, hat man/frau 77 km Fahrt nach Mimili vor sich, eine Aboriginal-Siedlung von etwas mehr als 200 Leuten, wo Polizeiwache, eine Schule für etwa 60 Kinder, ein Schwimmbecken, ein Garten, in dem traditionelles bush food, Kräuter, Beeren, Wurzeln, die traditionell von den Ureinwohnern gegessen werden, und anderes zu finden sind. Das weiß ich aber nur, da ich ein wenig im Internet nachgeschaut habe. Um mir das selbst anzusehen, müßte ich um eine Genehmigung bitten, da das Land den Aboriginals, den Western Arrernte und Yankunytjatjara-Einwohnern, vorbehalten ist.

Man stelle sich rot-braune Erde vor, viel Sonne, Gestein und Berge, spärliches Grün, wenn man sich auf den Weg macht. Außerdem liegen links und rechts am Straßenrand verlassene Autos, die Robert Fielding mit der Spraydose bemalt, in Mustern und Ausdruck sich bei Überlieferungen seiner Vorfahren bedient. Das im See schwimmende “Holden on”, ein Wortspiel, der Holden ist ein lange in Australuen produziertes Auto, “Holdin’ on” heißt festhalten, dient auch als Werbung für die Galerie und die Ceremony-Ausstellung.

Im ersten Raum der Ausstellung ist eine Wand einem Kunstwerk von Penny Evans vorbehalten, gudhuwali BURN 2020-21.

Sie benutzt 280 in Lehm eingebettete angebrannte Überreste von lokalen Banksias, um an die heftigen Buschfeuer von 2015 bis 19 zu erinnern und auf die Bedeutung traditioneller Pflege der Ureinwohner für die Landschaft hinzuweisen. Das Ausbleiben des back burnings, des vorbeugenden kontrollierten Abbrennens, ist eines der Probleme (neben der in den letzten Jahren mehr und mehr sichtbaren Klimaveränderung), die die Feuer begünstigen und zu großflächigen zerstörenden Katastrophen auswachsen lassen.

Banksias wie auch andere einheimische Pflanzenarten bedürfen Feuer und/oder Rauch, um sich zu reproduzieren. Sie profitieren von vorbeugendem und daher regelmäßigen Abbrennen. Unregelmäßige und sich schnell wiederholende Brände sind Gift, da sich die jungen, aus der Asche entsprungenen Pflanzen noch nicht weit genug entwickelt haben, um “Eltern” für die nächste Generation zu sein.

Penny Evans lebt in Lismore. Ihr Zuhause ist das Land der Gamilaroi, das bewaldete Hinterland von Byron Bay an der nördlichen Küste New South Wales. Neben Waldbränden stellten kürzlich auch Fluten eine Gefahr da.  Im Februar brachten anhaltende Regen soviel Wasser in die Stadt, Heimat von ca. 40 000 Menschen, daß de untersten Stockwerke von Wohnhäusern und Geschäften komplett geflutet wurden.

Dylan River hingegen stammt aus den Northern Territories, von den Kaytete. Seine Großmutter, Freda Glynn, und deren Schwester wurden in den “Bungalow” an der Telegrafenstation am Nordrand der zentralaustralischen Stadt Alice Springs verfrachtet, in eine Institution für “half-casts”, die gemischtrassigen Kinder mit weißen und Aboriginal Eltern. Ihre Mutter Topsy verdingte sich in der Wäscherei des Bungalows, um bei ihren Kindern bleiben zu können.

Dylan River betrachte sich Bilder der Kinder, die in diese Institutionen verschleppt wurden, um von Familie und Zugang zu ihrer Kultur getrennt zu werden. Zumeist wurden sie vor den weißen Häusern aufgereiht. Bei genaueren Hinsehen war in ihren Augen reflektiert trotzdem etwas Umfeld zu sehen, die Landschaft und die Gebäude, in denen sie aufwuchsen.

Darrell Sibosado, von den Bard People, “Salzwassermenschen” auf der Dampier-Halbinsel nördlich von Broome in Westaustralien, fühlt sich seiner Kultur und Vorfahren verbunden, wenn er Seemuscheln, riji, in den Händen hält.

Ich habe im Norden Westaustraliens an der Eighy Miles Beach einen Zwischenstop eingelegt, als ich 1997 als Tourist das Land bereiste. Vom Bus, der alle zwei Tage hier den Highway entlang fuhr, wurde ich an einem Abzweig abgesetzt und hatte einen zweistündigen Marsch vor mir, unter strahlendem Blau, auf roter Erde, bewachsenen mit meterhohen bleichgrünen Sträuchern, auf einer Landstraße, an dessen Ende ein kleiner Zeltplatz zu finden war. Dahinter war ein helles türkisfarbenes makellos klares Meer von unglaublicher Schönheit.

Zurück zu den Muscheln. Diese sind die Schuppen der Aaalingoon, der Regenbogenschlange, die auf dem Ozean zur Ruhe kommt. In diese Muschelschalen werden traditionell Muster eingeritzt, die Darrell Sibosado nun stattdessen neonstrahlend  an die Wand malt. Wie auf den Schalen sind drei Symbole zu sehen: Gulgan, die Fischreuse, Morr, der Weg, und Dyimmorgamol, der Krieger.  Sie stehen für den Ort, an dem  man ist,  der Tätigkeit, was man tut, und der Stellung, sein Platz und Status in der Gruppe. “Narrgidj Morr” ist der Richtige Weg, dem zu folgen ist..

Diese Symbole sind mit Zeremonien assoziiert, beschreiben aber nicht diese selbst, sondern den Weg zu ihr. Dieser ist Teil des Ganzen und reflektiert Verwandtschaft und Pflichten zwischen den Mitgliedern der Gruppe.

Mantua Nangala von den Pintupi ist in der Gibson-Wüste zuhause. Halben Weges zwischen der eben genannten nördlichen westaustralischen Küste und Alice Spring liegt Kiwirrkura, eine kleine Siedlung mit weniger als 200 Einwohnern. Sie zählt zu den am weitesten isolierten Orten Australiens.

Ihre vom weiten abstrakt und nahezu monochromatisch ausschauenden Bilder sind geduldig Punkt für Punkt gemalt. Mantua Nangalas Bilder sind mit traditionellen Wanderungen von Frauen durch die Wüste verbunden und erinnern an das Flirren der heißen Luft über den sich im Wind ständig umformenden Dünen in der Wüste.

Am Ende meines Ausstellungsbesuchers bin ich noch über ein Kunstwertk “gestolpert”, welches nicht von einer Aborigine, sondern einer Melbourner Künstlerin geschaffen wurde, Janenne Eaton.

Der Anblick läßt mich zumindest vermuten, daß bei der Idee dieses Werkes aus dem Jahre 1993 Kunst der Ureinwohner Pate gestanden hat.

Beim genauen Hinsehen entpuppt sich, daß es aus tausenden elektrischen Widerständen besteht.

So heißt es denn auch: Resistance – Widerstand.

The Barassi Line

Ich habe ja versprochen, ein wenig über die letzten Wochen zu schreiben. Vorher müssen wir aber noch eine Bundestagswahl oder das australische Pendant, die Wahl zum Bundesparlament, hinter uns bringen. Langsam sehne ich mich nach der Volkskammer zurück. Da gab es wenigstens keine Wahlkampagnie, es war einfach nicht nötig zu beweisen, daß die Welt eine Scheibe ist. Dafür sind hier Murdoch und andere Milliardäre zuständig, die ganze Bagage, die für sie schreibt und im Fernsehen auftritt. Ich habe gestern, auf der Suche nach Max Goldt, im Internet eine Meinung gefunden, daß die BILD-Zeitung die AfD ermöglicht hat. Hier ermöglicht das eine “konservative” Regierung, wobei es mit dem Konservieren nicht so weit her ist, wenn man von der Konservierung der Herrschaft absieht.

In Melbourne wohnend, ist das doppelt bitter.  John Howard, Tony Abbott, Christiansen, Bob Katter, Palmer, Craig Kelly, Scott Morrison – die Mehrzahl der Politiker, die unser Land vergiften oder zum Gespött preisgeben, kommt von weiter im Norden, von der anderen Seite der Barassi Line, der Linie, die kulturell das land in zwei Sportarten und weiter in zwei Kulturen unterteilt.

Ian Tucker, ein Melbourner Akademiker und Richmond-Fan (Richmond, der Footy-Klub), gab von 1966 bis 1978 Vorlesungen, um Ron Barassi senior zu ehren, einen  Footy-Spieler, der bei Tobruk, in Nordafrika, im Zweiten Weltkrieg sein Leben ließ. Seine Barassi Line zerteilt das Land. Im Nordosten Australiens, an der Küste Queenslands und New South Wales, herrschte – und herrscht – Rugby, im Rest des Landes wird überwiegend Footy, Australian Rules Football gespielt.

Ein wenig reflektiert das auch gesellschaftliche Unterschiede. Sydney, eine zunächst als Strafkolonie noch im 18.Jahrhundert gegründete Stadt, war eine sehr konservative, dem englischen Klassensystem nachgeformte Gesellschaft, in der Rugby, das Spiel der Gentlemen, der Aristokraten, seinen Platz fand. Melbourne wurde 50 Jahre später gegründet, im Viktorianischen Zeitalter der Aufklärung. Schon früh in seiner Stadtgeschichte setzte das Goldfieber ein, welches Melbourne wachsen ließ und Wohlstand schaffte. Hier fand schnell ein lokal geschaffenes Spiel, Australian Rules Football, Anklang.

Der Name Barassi Line selbst ist ein Wortspiel auf die Brisbane Line. 1942 wurde der (sozialdemokratischen) Labor-Regierung der Vorschlag gemacht, im Falle einer japanischen Invasion, die durchaus möglich erschien, die industrialisierten Landesteile von Brisbane weiter südlich zu verteidigen, und das weite Land nördlich den invasoren zu überlassen. Dieser Vorschlag wurde von John Curtin und seiner Regierung verworfen. Ein Minister, Eddie Ward, nahm dies zum Anlaß, die vorherige, konservative, Regierung unter Robert Menzies dieses Plans zu beschuldigen. Robert Menzies bestritt das. Die Regierung ließ daraufhin eine Untersuchung führen, die überprüfen sollte, ob da etwas dran sein. Es konnten keine Dokumente gefunden werden, die den Vorwurf erhärteten, nichtsdestotrotz trug die Untersuchung nicht zum Ruf von Menzies bei und half Labor und John Curtin, ihn bei der nächsten Wahl zu besiegen.

Auf unserer Osterreise, die uns auch durch Canberra, die australische Hauptstadt, führte, sah ich John Curtin und seinen Weggefährten Ben Chifley.

Herbstliche Feiertage

Ich schreibe diese Zeilen an einem späten Sonntagnachmittag im Melbourner Herbst. Die Katze sitzt neben dem Monitor und schaut ab und an zu mir und ab und an nach draußen, wo gleich die Sonne untergeht. Das Radio bringt Musik aus Timor Leste, East Timor. Nächste Woche wird es in St.Kilda ein Konzert geben, um den zwanzigsten Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes zu feiern. Danach wird auf das Konstantin-Projekt hingewiesen. Konstantin ist der lauteste Hahn im Dorf. Wie aber kommt es, daß es überall in Europa Hühner gibt, wo die ursprüngliche Heimat wahrscheinlich in Südostasien zu finden ist? Darauf möchte dieses Projekt musikalisch Auskunft geben. Diesen Monat wird es in der Mission für Seefahrer zwei Aufführungen geben. Dabei wird es wahrscheinlich um mehr als nur um Migration von Hühnern gehen. Eine Show wird auch via Streaming zu sehen sein, wer denn sehr neugierig ist: https://whatson.melbourne.vic.gov.au/things-to-do/konstantin-grandmothers-tongue

Das ist nahe Zukunft in unserer Stadt, die dem Winter entgegensteuert. Noch beschert sie uns sonnige und zumeist noch angenehm warme Tage. Wir haben manchmal am Morgen unseren Gasheizer im Eßzimmer laufen und für die Schlafzimmer die mobilen elektrischen Plattenheizer programmiert, die aber noch nicht auf Hochtouren laufen.  Der Herbst war dieses Jahr zumindest recht erträglich. Er beschert uns auch drei Feiertage. Der erste ist der Labour Day, der Tag der Arbeit, im März, der letzte der ANZAC Day Ende April. Dazwischen liegt das Osterfest, welches wir benutzt haben, um uns auf eine zweiwöchige Reise nach Norden zu begeben, um eine befreundete Familie zu besuchen und zeltend ein wenig mehr vom Land zu sehen. Davon möchte ich in den nächsten Tagen berichten.

Im Hier und Jetzt höre ich gerade wirklich wunderschöne Musik aus South Australia. Von hier kommt die Band Yellow Blue Bus. Der Name weist auf die musikalischen Wurzeln hin – die inzwischen leider durch einen Krieg weitbekannten Farben der ukrainschen Nationalflage. In den Liedern der Band, in der drei Musiker mit ukrainschen Familienwurzeln spielen, ist das ukrainische Instrument Bandura  zu hören, welches mit mehr als 60 Saiten bespannt ist. Das Lied, welches ich gerade hörte, heißt Trishna, und ist hier zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=lXvf-qGMzok

Nachbarvölker in Melbourne

Ich habe mit meiner Frau am Sonntagnachmittag Springvale besucht, ein Stück Vietnam in Melbourne. Nach dem Sieg der Kommunisten aus dem Norden, besiegelt durch den Fall Saigons 1975, flohen Abertausende von Vietnamen übers Meer. Australien unter der Regierung von Malcolm Fraser nahm einige Zehntausende von ihnen auf, und so etablierten sich hier vietnamesische Gemeinschaften, besonders konzentriert in einigen Stadtteilen wie Footscray, North Richmond und Springvale. Hier entstanden Märkte, Geschäfte und Gaststätten, die manche Straßenzüge eher wie Saigon als denn Melbourne aussehen lassen. Von dort aus eroberten Pho, die vietnamesische Nudelsuppe, und Banh mis die Stadt, Brötchen mit Füllung nach vietnamesischer  Art – die Brötchen kamen ihrerseits aus Frankreich nach Vietnam. Sie sind genauso wenig zu übersehen wie Döner in Berlin.

Meine Frau stammt aus dem Süden Chinas, nicht sehr weit von der Grenze zu Vietnam entfernt. Wie überall teilen Grenzen Länder, aber nicht Gebräuche und Geschmäcker. Selbst Sprache und Stämme werden von diesen Grenzen durchzogen und nicht getrennt. Meine Frau hat gute Freundinnen aus China, die ethnisch Vietnamesinnen sind und zuhause vietnamesisch reden, genauso gibt es Chinesen in Vietnam wie anderen Ländern Südostasien, die eine oder mehrere chinesische Sprachen sprechen. Meine Kollegen in Malaysia wechseln je nach Gesellschaft zwischen kantonesisch, Hokkien, Mandarin, Malay und englisch.

Hier in Melbourne Anfang des 21.Jahrhunderts spielen Grenzen glücklicherweise keine all zu große Rolle. Wenn auch ncht immer und überall Friede Freude Eierkuchen herrscht, geht Mann und Frau doch zu allergrößten Teilen tolerant miteinander um.

Die Küche, die Gaststätten und Geschäfte, tragen ihren Teil dazu bei. So haben sich in Melbourne Griechen nach dem zweiten Weltkrieg etabliert, und als einige Jahre später Türken hinzukamen, fanden sie die griechischen Fleischer und Gewürze und Restaurants, die Ähnliches anboten als sie von zuhause kannten. Man geht lieber dort einkaufen, als sich mit ihnen zu streiten und die Balkankriege fortzusetzen. Bei den Kindern ebbten die “erebten” Differenzen weiter ab. Ein befreundetes Ehepaar hat Eltern aus Griechenland (er) und Slowenien (sie), die ihrer besten Freundin sind aus (nun offiziell Nord-)Mazedonien etc. pp. Wenn ich Lust auf Rollmops oder Wurstwaren habe, die mich an Deutschland erinnern, kaufe ich die bei einer Polin am South Melbourne Market. Gute “europäische” Küche finde ich in St.Kilda East, Balaclava oder Elsternwick, wohin es um den Zweiten Weltkrieg herum viele Osteuropäer verschlagen hat, eine Gegend, die bis heute auch durch jüdische religiöse Gemeinschaften, Geschäfte und Gepflogenheiten geprägt sind.

Ich habe mich, auf den Beginn eines Films in Elsternwick wartend, spontan zum Abendessen in einem russischen Restaurant, dem Nevski, entschlossen, und dort Ente mit Rotkohl gegessen als auch zum Ende einen Wodka getrunken, einen Stolichnaya, dabei an meinen Vater gedacht, mit dem ich am liebsten angestoßen hätte (er mag diesen Wodka sehr), und dabei mich nicht im geringsten dsaran gestört, daß es ein russisches Restaurant ist. Viele Auswanderer haben oft von der Politik in ihrer alten Heimat genug, oder mußten gar davor fliehen. Ich habe besseres zu tun, als mich mit ihnen anzulegen. Wenn mir Putin über den Weg gelaufen wäre, das wäre was anderes gewesen.

Übrigens: Was ist der Unterschied zwischen Putin und Gott?

Gott hält sich nicht für Putin.

Warnie

März 2022 in Australien. Die Pandemie ist auf Platz 3 der Aufmarksamkeit gerutscht. Die Fluten weiter nördlich halten größere Teile der Bevölkerung an der Ostküste in Atem, inklusive Sydney und Brisbane, und dann gibt es da auch noch einen Krieg in der Ukraine. Pandemie? Ja, gibt es auch noch.

Und plötzlich ist Thema No. 1 etwas ganz anderes.

Ich bekomme eine Nachricht von einem aus Sri Lanka stammenden Freund: Rip – rest in peace, Ruhe in Frieden – mit einem Foto, auf dem zwei Männer zu sehen sind, von denen einer Shane Warne ist, der berühmteste aller australischen Cricketspieler seit Don Bradman, dessen Leben und Werk und seine Siege in Vindaloo (sorry, hier zitiere ich Bill Bryson, wie er Cricket beschreibt) zum australischen Staatsbürgerschaftstest gehören. Eine weitere Nachricht klärt mich auf: es ist tatsächlich Warnie, der gestorben ist, im Alter von nur 52 Jahren, an Herzversagen.

Cricket gehört in Australien zum Leben vieler Menschen. Das sind sowohl die Australien prägenden Einwanderer aus Großbritannien, die über Generationen hinweg dieses Spiel pflegen, als auch Migranten aus Indien, Pakistan und Sri Lanka. Für Inder scheint Cricket so etwas wie eine Nationalreligion zu sein. Die indische Cricket-Liga ist die bestbezahlende Liga der Welt, das Äquivalent zur englischen im Fußball. In Melbournes Sommer kann man an jedem Wochenende im Park zumeist in weiß gekleidete Menschen sehen, die Cricket spielen.

Ich habe vor kurzem mein erstes Cricketspiel erlebt, im MCG, dem Melbourner Cricket Ground. Es war das küzeste aller Cricketformate, T20, das nur 20 overs (20×6 Bälle), etwa 2 1/2 Stunden dauert, etwa so lange wie ein Footyspiel. Es war ein Länderspiel gegen Sri Lanka, und ich kam deswegen zu dem Besuch, da der erwähnte Freund aus dem Lande mit seiner Tochter in Covidquarantäne feststeckte. Es war nicht so langweilig wie befürchtet, ich fand es ganz im Gegenteil interessant – und ich habe zumindest die Grundregeln verstanden. Das Stadion war nur mäßig besucht, aber die Fans aus Sri Lanka haben ihr Team kräftig angefeuert, auch wenn sie am Ende nicht unerwartet unterlagen.

Ich saß vor ein paar Monaten in Brighton, einem Melbourner Stadtteil, in einem Pub, in dem mir von Fotos bekannte Cricketspieler verkehrten. Auf den Fernsehern an der Wand war Cricket zu sehen, und ab und an wurde ein gefallener Stumpen, ein Wicket, gefeiert. Ansonsten wurde viel geredet und getrunken und Frauen umarmt und mehr geredet, getrunken und umarmt.

Das hat auch Shane Warne sehr gern getan, wie Zeitungen und Fernsehen gern berichteten. Er lebte in Brighton, und diese mit Kreide geschriebenen Spontanwidmung fand ich dort dieses Wochenende.

Von seinen Erfolgen beim Cricket, seinen Skandalen und seinem Charme wurde auch heute viel geredet, die Tageszeitung widmete ihm mehr zehn Seiten. Es wird ein Staatsbegräbnis für ihn geben.

Warnie ist tot. Eine Legende hat Melbourne, Australien und die Cricketwelt verlassen.

(Foto: Tourism Victoria, unter CC 2.0 Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en)