Fließend Wasser

“Hier stand einst das All English Eleven Hotel. Im Jahre 1897 war es das erste Gebäude in dieser Gegend, welches an das öffentliche Abwassersystem angeschlossen wurde.”

Diese Plakette fanden wir gestern auf einem Spaziergang.

Selbst in meiner Kindheit in China auf dem Lande gab es für uns kein fließend Wasser im Haus, erinnert sich meine Frau. Ihre Eltern waren Lehrer in der südlichen Provinz Guangxi, in einer Kleinstadt namens Zhaoping. Sie hatten sich beim Studium in einer größeren Stadt, in Guilin, kennengelernt. 1963 war ihr Studium zu Ende und die Behörden schickten sie in eine Schule irgendwohin, je nach Bedarf. Die familiäre Herkunft spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Meine Schwiegereltern hatten eine damals unvorteilhafte Herkunft, beide ihrer Elternhäuser waren vor der Machtübernahme durch die Kommunisten wohlhabend gewesen. Angelegenheiten des Herzens waren ohnehin von untergeordneter Natur, und so war ihr Arbeitsplatz in verschiedenen Städten, hunderte Meilen voneinander entfernt. Er kam nach Nanning, die Hauptstadt von Guangxi, während sie ihre Arbeit an einer Mittelschule in Zhaoping aufnehmen mußte.

Für vier Jahre versuchte er, sie und seine Familie in die Großstadt zu bringen, in der das Leben in vierlei Hinsicht besser war. Es ergab sich aber nicht. Schließlich gab er auf und zog zu ihr aufs Land.

Die Lehrer der Mittelschule waren in einem Wohnkomplex untergebracht, in dessen Mitte sich die Wasch- und Kochmöglichkeiten befanden. Dort gab es fließend Wasser, kalt und warm. Man wusch sich dort und ging auch nahebei in eine örtliche Toilette, ein Loch im Boden, über das man sich hockte. Für Bedürfnisse im Dunkeln stand ein Nachtpot an der Tür, der morgens dann gesäubert wurde. Oft war dieser Nachtpot ein Teil der Aussteuer, die einer Frau bei ihrer Heirat auf den Weg gegeben wurde. Fürs Händewaschen gab es einen Wassereimer, der hinter dem Haus in einen Kanal geleert wurde.

In den Sechzigern war die Kulturrevolution in vollem Gange. Die Lehrer gingen mit ihren Schülern regelmäßig in die Reisfelder, um bei der Aussaat zu helfen. Auch wenn Intellektuelle verschrieen waren, waren sie denn doch manchmal nützlich. Meine Schwiegermutter fiel durch ihre gute Handschrift auf und wurde für “freiwillige” Arbeit in einer Propagandaeinheit eingestellt. Unsinn auf Plakate zu malen war besser als im Wasser zu stehen, während sich die Polypen an den Beinen festsaugen, befand sie.

Auch ihr Mann versuchte, das Beste aus den Möglichkeiten zu machen. Er ernannte sich selbst zum Federballtrainer und übernahm die Musikanlage der Schule. Es war ihm überlassen, Platten zu kaufen. Er genoß die Freiheit. Während klassische chinesische Musik verboten war, es gab nur eine Handvoll revolutionärer Opern, die unter Mao aufgeführt werden durften, wurden klassische Orchesterwerke aus dem Westen toleriert. Meine Frau wuchs daher mit dieser Musik auf. Ihr Vater organisierte Konzertabende in der Schule, Vorführungen verschiedenster Art und hatte letztendlich eine Menge Spaß dabei, wie meine Frau meint. Sie erinnert sich, dass er einmal ein Flugzeugmodell bastelte und durch den Raum fliegen ließ.

Als Angestellte in der Stadt bekamen ihre Eltern regelmäßig eine Portion Reis, die mit Bauern aus der Umgegung getauscht wurde. Ihre Familie hatte “Geschäftsbeziehungen” mit einem Bauern, der mit frischen Reis zu ihnen kam und ihn gegen den alten aus der Familienration eintauschte, im Verhaltnis 1:2. Er trug den Reis und anderes ausbalanziert an den Enden eines dicken Bambusstockes, den er sich über die Schultern legte. Ein lokaler Bauernmarkt im Ort trug ebenfalls dazu bei, daß sie für ihre Umstände recht gutes
Essen auf dem Tisch hatten.

Währenddessen wurden ihre Eltern, die Großeltern meiner Frau, nicht jünger. Sie lebten in Wuzhou, einer etwas größeren Stadt einige Stunden flußabwärts am Gui, der sich in Wuzhou mit dem Xun verbindet. Meine Frau besuchte oft ihre Großeltern in den Ferien. Auf dem Fluß ging sie auf die Reise. Ein Schiff, mit Früchten und Gemüse beladen, brachte sie in die Großstadt und zurück. Sie genoß es, einige Stunden auf geladenen Kohlköpfen zu sitzen und sich die Natur anzuschauen.

Der Großvater war vor der Revolution Hotelbesitzer gewesen. Wohl hatte er sein Heim und seinen Reichtum verloren, sich dann aber doch mit den Kommunisten arrangiert, die seine geschäftlichen Faehigkeiten zu schätzen wußten. Er wurde Leiter einer lokalen Handelskammer.

Er hoffte, daß er seine Beziehungen nutzen konnte, um seine Tochter und deren Familie nach Wuzhou zu holen. So schrieb er einen Bittbrief an lokale Behörden. Seine Tochter hatte in der Propagandaeinheit, in der sie arbeiten mußte, einen hohen Offizier kennengelernt, der ebenfalls eine Kopie des Bittbriefes bekam. Als er nächstes Mal nach Wuzhou fuhr, nahm er meine Schwiegermutter mit. In Wuzhou gab es einen größeren Militärkomplex mit einer eigenen Schule.

Der Offzier fuhr mit dem Jeep vor und beauftragte einen seiner Untergebenen damit, für die mitfahrende Frau zu sorgen. Beeindruckt von der Vorstellung, sie mußte schon was besonderes sein, wenn der Offizier sich darum bemühte, nahm sich der Beauftragte dieser Angelegenheit an. Bald schon bekam sie eine Anstellung in der Schule. Sie konnte zunächst nur ihre Tochter mitbringen, Mann und Sohn blieben ein weiteres Jahr in der Kleinstadt, da sie dort in der Schule nicht zwei Lehrer gleichzeitig abgeben wollten.

Schließlich, im Jahre 1980, war die Familie wieder vereint. Mein Schwiegervater war sehr froh, in einer Wohnung zu wohnen, in der fließend Wasser, Toilette und Küche zu finden waren. Mehr brauche er nicht zum Leben, sagte er angesichts des Wohlstandes. So erinnert sich meine Frau.